Alle Schüler, die in mein Berliner Studio zum Unterricht kommen, Sänger wie Schauspieler, haben ein Anliegen gemein: sie haben das Gefühl, mehr über die Stütze lernen zu müssen. Alle sind sich einig darüber, dass das Stützen für eine Bühnenstimme notwendig ist und haben auch alle eine mehr oder weniger bestimmte Vorstellung, was das ist. Jeder hat oft ein eigenes Rezept, was ganz hilfreich ist, aber meistens auch nicht sicher abrufbar. Manchmal funktioniert es, oft auch nicht, und es scheint, das man es nicht direkt in der Hand hat. Im Allgemeinen herrscht eher Unsicherheit.
Problematik des Begriffes „Stütze“
Es scheint vor allem nicht klar zu sein, was das „Stützen“ eigentlich bewirkt und warum es notwendig ist.
Ich benutze den Begriff nicht gerne in meinem Unterricht, weil er schon vom Wort her etwas Statisches an sich hat und sehr preußisch klingt. In anderen Sprachen ist der Begriff klüger gewählt:
Im Englischen heißt es ’support‘, also eine ‚Unterstützung‘, das hat für mich etwas Leichtes, Helfendes. Im Italienischen, wo der Name ja herkommt, heißt es ‚appoggiare la voce‘, also die Stimme ‚anlehnen‘, für mich auch ein weicher, fließender Begriff.
Jeweils ergibt sich die Frage, was wird unterstützt, und was wird wo angeleht?
Was wir als ‚Stützen‘ bezeichnen, ist ein komplexer Vorgang, der nur einer einizigen Aufgabe dient: die bei der Ausatmung nach aussen dringende Luft von den Stimmbändern fernzuhalten.
Der subglottische Druck an den Stimmbändern
Die Stimmbänder sind durch ihre Stellung im Kehlkopf dafür prädestiniert, von der von unten nachdrängenden Luft aufgedrückt zu werden. Sie können nicht mehr richtig schliessen, und das Zerbrechen des Registers ist die Folge. Einen Ton zu ’stützen‘ heisst also, die Luft von den Stimmbändern wegzuhalten, sodass diese sich die Luft nehmen können, die sie brauchen, um in Schwingung zu geraten – und das ist immer weniger, als wir selbst denken. Wir erreichen das dadurch, dass wir auf muskulärer Ebene in die Ausatmung eine Einatmungsfunktion schalten.
Wie ist das möglich?
Dafür gibt es einen Trick, der sehr hilfreich ist, um die körperliche Wahrnehmung für diesen komplexen Vorgang zu wecken: ich lasse meine Schüler am Zeigefinger saugen und hierauf die körperliche Wahrnehmung beschreiben – nach kurzer Zeit ist klar, dass mit dem Saugen eine Spannung in der Zwischenrippenmuskulatur einhergeht, der Brustkorb bewegt sich in die Dehnung. Dann lasse ich sie durch die Nase ein-und ausatmen, und sie stellen fest, dass trotz des Ein-und Ausatmens die Dehnungsspannung des Brustkorbes erhalten bleibt.
Dies veranschaulicht den Vorgang etwas: der Sänger ist also in der Lage, beim Ausatmen die Dehnungsspannung des Einatmens beizubehalten, was eben zur Folge hat, dass die Luft nicht ungehindert gegen die Stimmbänder drückt, sondern sie vielmehr gebündelt wird – der Begriff „auf dem Atem singen“ beschreibt diese körperliche Wahrnehmung.
Echte Funktionen und ihre Kompensation
Hierfür setzt eine komplexe Muskulatur ein, deren Aktivierung wohl erst einmal als anstrengend empfunden wird, einfach, weil sie meistens in keiner Weise trainiert worden ist: aber wann immer diese Muskulatur nicht bewusst ist, greift die Hals-und Zungenmuskulatur kompensierend ein, und das Ergebnis ist ein unsicheres, brüchiges System, das wir nur durch seine Beschränkungen beschreiben können, weil diese Hilfsmuskulatur niemals die echten Funktionen ersetzen kann.
Wollen wir die Muskeln, die für diesen Vorgang verantwortlich sind und vom Singenden unmittelbar zu spüren sind, noch kurz beschreiben:
Die untere Abdominal-Muskulatur, eine innere Muskulatur, die unter dem Bauchnabel zu lokalisieren ist, arbeitet in einer nach innen, oben ziehenden Richtung, (der Begriff „Abdominal-Muskulatur“ zeigt schon, dass Sänger nicht viele Umgang mit ihm zu haben scheinen: amerikanische Kollegen sagen hierzu einfach nur „die abs“). Der solar plexus, jener empfindliche Nervenpunkt unter dem Brustbein, wo sich viele Nervenbahnen treffen, tritt in der Tongebung kontinuierlich nach aussen. Wichtig ist, dass zu Beginn des Tones nicht ein Ruck des solar plexus in die äusserste Spannung erfolgt, sondern das der Ansatz sehr sanft (eben anlehnend) beginnt. Der Sänger verspürt während der Tongebung also eine „Wippbewegung“ von den abdominals zum solar plexus.
Nun fügt sich die Einatmungsmuskulatur ein, um diesen Atemstrom zu bändigen: die Intercostal-Muskulatur, die „waistbands“, die wir direkt unter den Rippen fühlen können. Sie treten in der Tongebung weich nach außen – eine Funktion, die wir vom Lachen her kennen. Die Bauchdecke selbst bleibt also passiv, damit die anderen Funktionen frei agieren können.
Weiterhin setzt die untere Flankenmuskulatur ein, und zwar in einer Bewegung nach außen, (dies ist deutlich zu spüren, wenn man sich mit dem Rücken an die Wand lehnt, die Füße etwas abgewinkelt, so dass der ganze Rücken an der Wand ruht, und man ein stimmhaftes -s- in die Wand hinein summt. Dies Gefühl muss in das normale Stehen mitgenommen werden. („Der Sänger singt mit dem Rücken“). Die Zwischenrippenmuskulatur hält die Einatmungsweite, das Sternum zeigt eine Tendenz nach vorne (nicht nach oben): hier auch wieder das Bild, das der Ton an die Muskulatur „angelehnt“ wird.
Eine höhere Ordnung im Muskelsystem
Diese vielschichtigen Funktionen müssen einzeln geübt werden, bis sie sich auf einer Ebene zusammenschließen, die der Sänger gar nicht mehr aktiv steuern kann: es entsteht eine höhere Ordnung, und der Sänger hat das Gefühl, hinter die Stimme ‚zurückzutreten‘. Der Einhängemechanismus des Kehlkopfes und dieser selbst können frei arbeiten und werden nicht mehr durch irgendwelche Manipulationen und Kompensationen der Kehle gestört.
Trotz allem ist dies noch eine vereinfachte Beschreibung der Vorgänge, es sind noch viel mehr Muskelfunktionen beteiligt, wichtig ist dabei, dass der Sänger die hier beschriebenen Funktionen deutlich wahrnehmen und damit abrufbar einsetzen kann und spüren kann, in welchem Maße der gesamte Körper der Bühnenstimme Halt gibt.