„There is no perfect teacher, because there is no perfect person. However, if we look at life as a process of beauty and personal growth, then we can see every day as an opportunity towards greatness: every moment can be a part of the chain that makes for a beautiful process. Embrace life, your inner self and others with concern and kindness.“ – David L. Jones
Am Beginn der sängerischen Arbeit steht die Schulung des Bewusstseins für Resonanz, Klanggestaltung und Klangführung im Vordergrund.
Da ich es in meiner Studioarbeit aber vermeide, Sängerinnen und Sänger rein instrumental denken zu lassen, sondern den ganzen Menschen in den Ausdruck mit einbringe, entwickelt sich im Laufe der Arbeit eine neue Ebene, die in der Folge der Ausbildung immer mehr Raum einnimmt: Die Sänger müssen erkennen, dass sie nicht nur lernen, ein Instrument virtuos zu handhaben, sondern das die menschliche Stimme in erster Linie ein Kommunikationsmittel ist und das sie mit ihr eines der mächtigsten Werkzeuge handhaben, die dem Menschen überhaupt zur Verfügung stehen.
Sie lernen, dass sie eine Botschaft transportieren, und das auf unterschiedlichen Ebenen, die sich einander bedingen.
Am Anfang steht die Körperanbindung der Stimme
Der Beginn einer professionell ausgerichteten Stimmbildung sollte immer die Körperanbindung der Stimme beinhalten.
Wir lernen, wie an anderer Stelle ausführlicher beschrieben (Appoggio, Stimme und Körper), wie sehr der Körper für die Sicherung der Stimmfunktionen verantwortlich ist.
Da hier soviel unterschiedliche Muskelebenen ins Spiel kommen, die es zu koordinieren gilt, ist es verständlich, das unsere ganze Aufmerksamkeit von dieser Ebene absorbiert wird, und wir keinen Platz haben, andere mit einzubeziehen. In dieser Arbeitsphase kann es passieren, dass wir ein Stück singen und hinterher nicht sagen können, worum es eigentlich geht, die inhaltliche Ebene ist nahezu ausgeblendet.
Dies ist legitim, solange es eine Phase ist, und dies einem auch bewusst ist. Ziel ist, dass die Arbeit der technischen Ebene so sehr im Unterbewusstsein verankert werden kann, das wir im Bühnengeschehen darüber nicht mehr nachdenken müssen. Je sauberer die technischen Grundlagen erarbeitet worden sind, umso eher ist dies der Fall.
Im nächsten Schritt machen wir die Erfahrung, dass wir zwischen den technischen und inhaltlichen Ebenen immer hin – und herpendeln, d.h., es gibt Momente, da sind wir in der Lage, einen Satz wirklich zu denken und zu fühlen und kümmern uns in diesem Moment gar nicht um die Technik. Wenn wir diesen Zustand aber realisieren, machen wir ihn meistens im selben Moment kaputt, weil wir uns noch nicht trauen, die technische Ebene zu vernachlässigen. Verwundert blicken wir auf die gerade gesungene Phrase zurück, die vielleicht immer eine technische Schwierigkeit barg, die wir eben gar nicht bemerkt haben.
Nach und nach verschieben sich die Ebenen immer mehr und wir machen die Erfahrung, dass wenn die Aufmerksamkeit von der Technik weggelenkt wird, dieselbe besser gehandhabt wird – wir müssen nur darauf vertrauen können.
Auf zwei Ebenen agieren
Um dieses Agieren auf zwei Ebenen zu üben, müssen wir unser eigenes Gehirn überlisten, weil es uns nicht gelingt, eine Sache bewusst nicht zu denken: ich gebe meinen Studenten dafür eine Aufgabe, die sie während des Singens bewältigen müssen: man kann sie real äusserlich beschäftigen, z.B. Stühle stellen, Figuren daraus bauen, oder sie veranlassen, auf zwei Ebenen zu denken – Heizkörperrippen zählen oder einen fremden Text lesen, den sie nachher wiedergeben müssen, etc.
Sie machen mit diesen Übungen die Erfahrung, dass das Agieren auf zwei Ebenen prinzipiell möglich ist, und ich also in der Lage bin, die technische Ebene laufen zu lassen, während meine primäre Aufmerksamkeit im Transport des Inhalts liegt.
Der emotionale Impuls
Ich verstehe Singen grundlegend als Transport eines inneren emotionalen Impulses über Klang und Atem nach außen, mit und ohne Text.
Wenn ich diesen Impuls selbst spüre und ihn nach außen bewegen kann, stelle ich fest, dass dieser Vorgang in erster Linie mit mir selbst etwas macht:
es ist eine generelle Erfahrung in meiner Studioarbeit, das mit der Wahrnehmung der Emotion auch Dinge ins Rollen kommen können, die man gar nicht erwartet und auch nicht haben möchte – sie sind aber da. Es kann in solch einem Moment passieren, dass man von der eigenen Emotion überrollt wird.
Auch dieser Prozess ist normal und zeugt von der Fähigkeit des Sängers, Emotionen wahrzunehmen und an sich heranzulassen. Wie soll er sonst die grossen emotionalen Energien verkörpern, die auf der Bühne verlangt werden?
Natürlich muss er lernen, mit diesen Energien umzugehen, denn wenn die Emotion einen überrollt, bricht die Stimme weg. Ziel ist ja, dass das Publikum erfasst wird, und der Sänger um diesen Prozess weiss. Allein in der Probenarbeit darf so etwas passieren.
Wenn die Sänger diesen Vorgang zum erstenmal erleben, ist das oft ein grosser Einschnitt in die Arbeit. Hier entscheidet sich, ob jemand nur „ein bisschen singen“ wollte, oder ob er etwas zu sagen hat, und die Stimme als Medium benutzen will.
Letztere sind in der Lage, diesen Prozess anzuschauen und durch ihn hindurch zu gehen.
Der Prozess des Lernens
Sie nehmen das Leben als einen Prozess des Lernens an und erfahren die Stimmarbeit als eine tiefe Arbeit mit sich selbst, wo auch Dinge sichtbar werden, die man nicht so gerne hat, die aber Teil unseres Selbst sind.
Wer hier abbricht, hat oft schlechte Erfahrungen mit dem Lernen ansich gemacht, und versteht es immer noch wie in der Schulzeit als Anhäufung von Fremdwissen, das mit einem selbst nichts zu tun hat und man als Erwachsener nicht mehr braucht. Lernzeit als Vergeudung von Lebenszeit.
Wir können uns aber als Erwachsene bewusst von den Lernerfahrungen der Schulzeit verabschieden und erkennen, dass das Leben uns zu einem Prozess des immerwährenden Lernens für uns selbst, zu unserem eigenen Wachstum, einläd, und das es die Gesellschaft ist, die uns suggeriert, dass Lernen immer mit einer Schulsituation verbunden sein muss, Erfahrungen vermieden werden sollten, weil sie den status quo in Frage stellen und ein grosser Aufwand betrieben wird, das Bewusstsein in den Grenzen zu halten, in denen es sich befindet.
Schwellenräume und bewusste Inkompetenz
In dieser Phase der Arbeit finden wir uns in einem Schwellenraum wieder – wir haben unseren alten Raum, der nicht mehr genügte, verlassen und uns auf die Reise begeben, aber der neue Raum ist noch nicht in Sicht, ich kann ihn ahnen, aber noch nicht betreten.
Ich erfahre die Kraft und die Energie der Arbeit mit der Stimme ohne sie zu beherrschen, im Gegenteil, es geschehen Dinge mit mir, die ich nicht lenken kann – ich erlebe den Zustand der bewussten Inkompetenz, den man als Erwachsener gern zu vermeiden sucht.
Wenn Sänger, gerade im nicht-klassischen Bereich, dazu neigen, immer nur mit einer CD zu üben, vermeiden sie unbewusst dieses Stadium: die CD liefert ja die musikalische Energie, und ich muss nur mitmachen. Es ist ein schmerzlicher Prozess, wenn ich alles plötzlich allein liefern muss, meine Stimme dabei ganz anders klingt, und ich die Phrasen allein auch nicht halten kann.
In solchen Momenten halte ich den Sängern vor, dass sie gerade, um die Illusion der Kompetenz zu wahren, ihre individuelle Selbstwahrnehmung aufgeben und ihr einziges Ziel zu sein scheint, wie jemand anderes zu klingen.
Der Weg zur eigenen Form
Wenn es einem Sänger oder einer Sängerin jetzt gelingt, eine eigene Form zu finden, können sie ungeheure Erfahrungen machen, was den individuellen Klang, die eigene Kraft und Energie angeht.
Plötzlich singen sie nicht Worte mit, sondern sind in der Lage, einen Text zu denken und bemerken zum erstenmal, was sie da eigentlich singen.
In solch einem Moment sagte eine Schülerin letztens: “ Ich bin doch hier nicht in der Therapiestunde!“ – weil sie spürte, wie sehr der gersungene Text bei ihr Emotionen auslöste. Dabei hatte sie selbst das Stück gewählt und den Text schon öfters durchgenommen.
Wir können sowieso davon ausgehen, dass es immer mehrere unterschwellige Gründe gibt, warum ich ein Stück auswähle – als ob es eine Instanz in uns gibt, die wissend im Verborgenen agiert und die Themen aussucht, die für uns „dran“ sind, auch wenn wir das offensichtlich nicht denken können.
Inhaltliche Arbeit
Jetzt gibt es noch die wirkliche Textarbeit, das Lernen, in Subtexten zu denken, den gegebenen Text in eine eigene Sprache zu übersetzen etc.,bis ich wirklich meine, was ich sage.
Und es gibt die meta-Ebene, die der Sänger selbst als eigenständige Persönlichkeit transportiert: wenn er diese Räume des Lernens durchschritten hat, hat er für sich eine Freiheit erobert, von der er nun durch die Musik mit seiner ureigenen Stimme künden kann.
Hier fängt der Austausch zwischen Künstler und Publikum statt.