Verschiedene Energetisierungen in der Vorsingsituation
Ich habe die Arbeit mit den Atemtypen in den 90er Jahren kennengelernt, und mich in mehreren Seminaren darin fortgebildet.
Ich hatte dann selbst in den vergangenen Jahren regelmässig Seminare auf der Basis der Atemtypen in Bezug auf Stimme gegeben, habe diese Arbeitsweise aber wieder in den Hintergrund gestellt, weil sie nicht ausreicht, die Funktion und Entwicklung der Bühnenstimme zu erklären.
Die Vorgänge, die ablaufen, wenn man vor vielen Hundert Zuschauern auf einer großen Bühne ein hohes C singt, werden durch dieses System nicht ausreichend erklärt.
Die Atemtypenarbeit hat ihre Berechtigung uneingeschränkt in der stimmtherapeutischen Arbeit.
Die energetischen und akustischen Gegebenheiten auf der Sängerbühne verlangen das Heranziehen weiterer Parameter.
Energetisierung der Stimme
In letzter Zeit gibt es aber speziell im Vorsingtraining immer wieder Situationen, wo ich bewußt die Atemtypenarbeit wieder hereinhole, nämlich immer dann, wenn es um die Energetisierung der Stimme geht.
Ich machte immer wieder die Erfahrung, dass Sängerinnen und Sänger, die in der gerschützten Atmosphäre der Unterrichtssituation gut arbeiten konnten, in der Vorsingsituation stagnierten, und überhaupt nicht in der Lage waren, das vorher Erarbeitete irgendwie zu wiederholen.
Es wurde immer deutlicher, dass die Vorsingsituation eine hochenergetische Angelegenheit ist, die nur derjenige meistert, der eine verlässliche Strategie entwickelt hat, wie er in solch einem Moment seine Energie „setzt“.
Das heißt, mit welchen Mitteln bringe ich mich in einen resourcenreichen Zustand, daß ich diese außergewöhnliche Situation erfolgreich meistere?
Ich kann einen hochenergetischen Zustand über die Bewegung oder über die Ruhe erzeugen, und dies sind zwei sehr unterschiedliche Herangehensweisen für den Sänger, seine Stimme in den Raum zu setzen. Grundlage für diese jeweiligen Zustände ist der Atem, das Bewußtsein über den Atem und seine Funktion, und daß ich um die Veränderungen weiß, die in Streßsituationen auftreten können.
Sänger haben diese unterschiedlichen Herangehensweisen meistens immer gekannt und versucht, über bestimmte assoziative Bilder den jeweiligen Zustand einzuleiten.
Der Verdienst der Atemtypenarbeit nun ist es, gezeigt zu haben, daß diesen unterschiedlichen Bildern ein Prinzip zugrunde liegt: was bei dem einen fruchtbare Wirkungen zeigt, kann bei dem anderen Kontraproduktiv sein.
Die Form der Energetisierung ist also unterschiedlich, und es ist hilfreich, wenn man das Prinzip kennt,daß für einen selbst der Arbeit zu Grunde liegt,weil: im anderen Fall schwebe ich immer in der Gefahr, die Bilder meines Lehrers zu übernehmen, die fürdiesen gültig sind, und ich wundere mich dann, wenn sie bei mir keine Relevanz haben und nicht greifen.
Energetisierung aus der Ruhe
Eine Möglichkeit, in einen recourchenreichen Zustand zu kommen, ist die Energetisierung über die Ruhe.
Auch hier ist die „Zeit vor der Zeit“, also die Vorbereitung zur Audition, massgeblich, welche Kriterien liegen ihr zu Grunde?
Der Sänger sucht in diesem Fall einen Ort der Ruhe auf, um den Atem zu zentrieren und zu erden. Er muss sich selbst einen Raum schaffen, in dem er ausatmen kann. Beim Vorsingen, wenn auch andere Kandidaten anwesend sind, kann das manchmal nur die Toilette sein – sei es drum.
Er oder sie sorgt dafür, stets offene Knie zu haben, damit die Energie durch den Körper nach unten in den Boden fließen kann. Das Bild, mit den Füssen Wurzeln zu schlagen, ist hier sehr hilfreich.
Im Singen selbst halte ich diesen Bodenkontakt, bei einer aufgerichteten Wirbelsäule und übereinandergestellten Nackenwirbeln, wobei der Oberkörper ruhig bleibt. Die italienische Tradition kennt dafür den Begriff: „come una statua“.
Energetisierung aus der Bewegung
Die andere Möglichkeit ist die Energetisierung über die Bewegung. Der Sänger versucht schon im Vorfeld, sich über den Atem Raum zu schaffen, einzuatmen, und in diesem Raum körperlich zu agieren. Der Oberkörper wird zur Beweglichkeit angehalten und jegliche Form von Gymnastik kann herangezogen werden.
Die Beweglichkeit des Oberkörpers bleibt auch beim Singen erhalten, die energetische Richtung wird aber durch den Körper aufwärts wahrgenommen, die Klangentfaltung findet spiralenförmig über einem oder hinter einem statt. Der Sänger sollte wissen welche Form der Bewegung er sich in der Vorsingsituation auf der Bühne erlauben kann – Kameraaufnahmen sind hier sehr hilfreich.
Warum bin ich nicht „drinn“?
Oft höre ich Klagen nach den Vorsingen, daß die Sänger, obwohl sie gut vorbereitet und zuversichtlich waren, das Gefühl gehabt haben, nicht „drin“ gewesen zu sein.
Wieso passiert so etwas so häufig, wo es doch offensichtlich war, daß sie in den vorherigen Probensituationen eben „drin“ gewesen waren?
Die Atemtypenarbeit erklärt dabei, daß sich die Energetisierung über den Atem in einer Streßsituation umkehren kann, d.h.,der Sänger, der eigentlich die Ruhe bräuchte um daraus kraftvoll zu agieren, kann nicht mehr ausatmen und wird fahrig und kraftlos, er steht neben sich, ist halt-und stimmlos.
Desgleichen kann dem Sänger des anderen Prinzips widerfahren, er kann sich dem Raum über das Einatmen nicht mehr nehmen und versinkt auf der Bühne zu einem kraftlosen Häufchen.(ein wenig übertrieben dargestellt)
Das Wissen um diese Möglichkleit, wie sich Prinzipien der Energetisierung umkehren können, beinhaltet auch die Chance, dem entgegenzusteuern.
Ein Beispiel aus den open classes
Ich hatte eine Musicalsängerin als Schülerin, die die Dynamik und körperliche Bewegung ganz offensichtlich für ihre stimmliche Entfaltung brauchte.
Im Unterricht ließ ich ihr daher jede Freiheit, körperlich zu agieren, was eine zunehmende Stärke und Brillianz der Stimme mit sich brachte. Im Vorsingtraining stand sie dann aber plötzlich regungslos am Flügel, ihr Gesicht wurde leer, sie wurde immer kleiner und die Stimme immer tonloser. Sie sah sehr unglücklich aus.
In unserem anschließenden feedback-Gespräch versuchte ich zu erkunden, was geschehen war. Sie meinte daraufhin, in der „ernsten Situation“ des Vorsingens könne sie ja nicht so „rumhampeln“, das passe ja zum Singen nicht.
In unserer nächsten Stunde hatte ich für sie eine DVD von einer Probe mit Rolando Villazon für La Traviata in Salzburg dabei, wo er genau in diese Körperlichkeit ging und sich ungehemmt zwischen den Orchestermusikern hin-und herbewegte. Meine Schülerin sagte dabei spontan: „Der ist ja wie ich!“
Sie hat in der Folgezeit immer mehr versucht, diese körperliche Agilität auch in der Vorsingsituation einzusetzen und studiert jetzt erfolgreich Musicalgesang in Hamburg.
Auch im Jahre 2013 werden die Atemtypen kontrovers diskutiert und oft als ’nicht-wissenschaftlich‘ abgetan. Ich halte das nach wie vor für zu kurz gedacht, und wünsche mir, dass jeder, Lehrer wie Schüler, die Möglichkeit hat, die Thematik zu prüfen und feststellen kann, ob sie ihm hilfreich ist. Frei nach dem Motto: ein Konzept ist wie eine Straßenlaterne – sie soll den Weg erhellen. Nur Betrunkene halten sich daran fest.
Der Wissenschaftler Franz Halberg (1915), einer der Begründer der Chronobiologie, wies empirisch nach, dass jede biologische Funktion eines lebenden Organismus durch einen periodisch auftretenden Bio-Rhythmus beeinflusst wird.
Unsere Körperfunktionen hängen mit einer Art Gezeitenbewegung in einem sich wiederholenden Zeitschema zusammen. Auffallend ist, dass diese Rhythmen ‚verlinkt‘ sind mit den Zyklen von vor allem nahen Himmelskörpern, mit der Sonne und dem Mond.