„The rules of study that we apply to our vocal development are not imposed upon us; on the contrary, they are formed from centurys of observation of the natural behaviour of those parts of the body that are used in singing.“ – Jussi Björling, 1940
Ich unterrichte seit 1989 Gesang und habe mich seitdem ausführlich mit der Tradition des Belcanto beschäftigt. Dabei waren meine eigenen Erfahrungen und Annäherungen im Studium eher zwiespältig. Belcanto war etwas, was in alte Zeiten gehörte, man bei uns im Allgemeinen „nicht mehr macht“, und überhaupt hatte es oft einen zweifelhaften, stimmschädigenden Ruf, weil es zu sehr „auf das Material“ ginge.
Dabei konnte niemand eigentlich genau erklären, was genau die Merkmale der Belcanto-Technik sind, es kursierten höchstens fragmentarische Geschichten von sehr einseitigen Übungen, die aber als überholt galten. Der Begriff wurde immer mit einer bestimmten Sängertradition und musikalischen Epoche verbunden, nie aber mit technischen Merkmalen. Es wurden immer bestimmte Ergebnisse als ‚Belcanto‘ bezeichnet, nie aber der Weg dorthin beschrieben. Ich erinnere mich an eine Situation zu Beginn meines Studiums, als wir uns im Jahrgang im Theorieunterricht einmal gegenseitig vorsangen, und ein asiatischer Kollege, der einige Jahre in Italien ausgebildet worden war, stimmgewaltig eine Arie sang, unser Dozent wissend nickte und meinte, dies nun sei die alte italienische Belcanto-Technik. Was der Kollege jetzt Besonderes machte, blieb unbeantwortet. Daher will ich an dieser Stelle versuchen, einige Kriterien zu beschreiben.
Eine Tradition aus generationenübergreifender Beobachtung
Die Merkmale des Belcanto wurden nicht irgendwann erfunden, sondern entwickelten sich aus einer über Generationen währenden minutiösen Beobachtung der körperlichen Vorgänge, die am Singen beteiligt sind. Aber schon Lamperti schrieb im 19. Jhr., dass es eine Methode des Belcanto nie gegeben habe. Es gab ein Wissen, dass von Lehrer zu Schüler weitergegeben wurde, diese Tradition währte über 400 Jahre, war höchst individuell und sehr erfolgreich.
Als Manuel Garcia nun 1854 begann, die Stimmbänder mit dem Laryngoskop zum ersten Mal während der Phonation zu beobachten, wurde diese Tradition durch die wissenschaftliche Beobachtung mehr und mehr verdrängt, wodurch es mit der Zeit verschiedene Atemtechniken gab, unterschiedliche Registerlehren: alle Sänger sprachen bald nicht mehr nur von Kopfstimme und Bruststimme, es kam die Mittelstimme dazu, das Pfeifregister, später der vocal-fry, modal, etc…die Formanten-Lehre, der Sängerformant usw.
Diese unterschiedlichen Begrifflichkeiten sind für Sänger auch heute noch oft verwirrend, was Manuel Garcia schon 1894 veranlasste, zu schreiben:
„Vermeide all diese modernen Theorien und halte dich eng an die Natur. Ich glaube nicht an die Lehre, Töne durch Empfindung hervorzubringen. Das Wichtigste bei der Erzeugung eines Tones ist, zu atmen, die Stimmbänder zu benutzen und den Ton im Mund (Pharynx) zu formen. Der Sänger hat nichts anderes zu tun. Früher begann ich mit anderen Dingen; ich pflegte den Ton in den Kopf zu lenken, tat seltsame Dinge mit der Atmung und ähnliches mehr, aber mit den Jahren verwarf ich sie als unbrauchbar, und jetzt spreche ich nur noch von konkreten Dingen und nicht mehr von bloßen Erscheinungsformen.
Ich verdamme all das, wovon heutzutage gesprochen wird, nämlich: das Führen der Stimme nach vorwärts, rückwärts oder aufwärts. Vibrationen entstehen durch Luftstöße. Jede Kontrolle über den Atem ist in dem Augenblick verloren, indem er sich in Schwingung verwandelt hat, und die Idee ist absurd, dass man den Luftstrom einmal gegen den harten Gaumen führen kann, um ein bestimmtes Klangergebnis zu bewirken und ein andernmal gegen den weichen Gaumen, um ein anderes Ergebnis hervorzurufen, und dass er sowohl hierhin als auch dorthin reflektiert wird. Auf die Stellung des Kehlkopfes bezogen, ob höher, ob tiefer – der Sänger braucht nur den natürlichen Empfindungen zu folgen, und der Kehlkopf, der Gaumen und der Rest sorgen für sich selbst. So ist es auch mit der Atmung; man kompliziere sie nicht mit Theorien, sondern hole Luft und beachte die Naturgesetze.“ (Manuel Garcia, the Musical Herald, London 8/1894)
Kommt uns das nicht bekannt vor? Es mussten über hundert Jahre vergehen, bis Prof. Sundberg postulierte, das es unmöglich ist, die Stimme zu ‚platzieren‘ oder‘ in die Maske‘ zu singen. Dr. Scott McCoy sagt 2015, der Sänger müsse seine Ein-und Ausatemmuskulatur kennen – wie er die kombiniert, ist so individuell, dass es sinnlos sei, es von aussen zu erklären.
Merkmale der Stimmbildung
Die zwei-Register-Theorie von Bruststimme und Falsett, die über mehrere Jahrhunderte Gültigkeit hatte, wurde aufgegeben, weil das Falsett im klassischen Gesang immer mehr an Bedeutung verlor und die Bruststimmfunktion der Frauen, zumindest der Soprane, verteufelt wurde.
Warum passierte das? In der Glanzzeit des Belcanto wurde nie gesagt, wie man etwas technisch macht, weil der individuelle Klang absolute Priorität hatte.Durch die Aufnahmetechnik des 20.Jh. veränderten sich aber die Hörgewohnheit: die Ästhetik eines gegebenen Klangideals wurde über die Funktionalität gestellt.
Unter anderem Cornelius L. Reids lebenslanger Recherche haben wir es zu verdanken, dass wir heute verstehen können, dass sehr wohl bestimmte funktionale Merkmale hinter dem Belcanto stehen und eigentlich über 400 Jahre ein einziges Arbeitsprinzip verfolgt wurde:
es gibt eine innere Kehlkopfmuskulatur, das Arytaenoid-Muskelsystem, was für das Verdicken und Schließen der Stimmbändern zuständig ist und die Vollstimme ergibt, und es gibt eine außen am Kehlkopf liegende Muskulatur, das Cricothyreoid-Muskelsystem, was für die Streckung (indem der Kehlkopf kippt) und Verdünnung der Stimmbänder zuständig ist , ergibt die Randstimme und sorgt für die Intonation.
Die einzige Aufmerksamkeit lag darin, diese beiden Systeme, die eigentlich nicht miteinander ‚reden‘, zur Kommunikation zu bringen.
Das Ergebnis dieser Zusammenarbeit ist ein perfekter Schwellton, die „messa di voce“, wovon wir noch heute sagen, dass wenn ein Sänger durch alle Lagen hindurch das kann – dann kann er singen!
Ein weiteres Augenmerk war das ‚appoggio‘ , was wir heute mit diesem ominösen Begriff ‚Stütze‘ übersetzen. Auch dazu sagte Prof.Sundberg im ausgehenden 20.Jh.: es ging um den Moment, wo die Luftsäule auf den Gegendruck der Stimmbänder trifft – einzig um diesen Moment. Wie der Sänger diese Luftsäule aufbaut, ob abdominal,inter-costal oder Beides – ist völlig irrelevant, weil individuell.
Wir kennen alle diese Sätze: „Du atmest falsch!“
Die „ng“- Zungenposition
Erstes technisches Merkmal ist die Position der Zunge: die alte italienische Schule lehrte schon immer die ’ng‘-Position der Zunge (wie beim italienischen ‚che‘ oder bei ’singen‘), d.h., die mittleren Zungenränder berühren die oberen Backenzähne, die Zunge beschreibt also einen leichten Bogen, wobei die Zungenspitze an den unteren Schneidezähnen ruht. Durch moderne wissenschaftliche Untersuchungen wissen wir heute, warum das schon immer gelehrt wurde: mit der Kamera kann man heute filmen, dass sich bei einer flachgehaltenen Zunge der hintere Teil der Zungenmuskulatur in den Kehlraum drückt und diesen nahezu verschliesst. Das Ansatzrohr wird also verengt. Diese Zungenposition ist für deutsche Sänger gewöhnungsbedürftig, weil sie die Vokale anders bündelt und unsere Tendenz zur Breitspannung deutlich wird. (Was die Ursache für die Verdickung der Mittellage, eben der ‚deutsche‘ Klang, ist.)
Leider wird bei uns immer noch häufig die flache Zungenposition gelehrt, wohl aus der Überlegung heraus, dass in einem großen Mundraum auch ein großer Klang entsteht. Wir wissen aber, dass dieser große Klang hinter der Zunge in der geöffneten Kehle entsteht, und die modernen MRT-Aufnahmen haben das bestätigt.
Das „u“ und „a“ als Grundvokal
Diese beiden Vokale gelten als Grundvokale der Stimmbildung, weil das ‚u‘ im piano gesungen, immer die CT-Funktion aktiviert, während Vokalisen, die auf ‚a‘ im forte basieren, immer die Vollschwingung (TA) aktivieren.Das heißt, auch wenn die Kehlkopfmuskulatur nicht direkt ansteuerbar ist, kann man doch mit der Wahl der Vokale bestimmte Funktionen hervorrufen, die dann auch so eintreten. Dies ist wiederum ein sehr individueller Vorgang, wobei der Sänger oder die Sängerin aber immer deutlicher das Gefühl bekommt, eine eigene Technik zu gestalten, die abrufbar ist.
Das cuperto
Die italienische Schule kennt den bei uns üblichen Begriff des „decken“ nicht, der aber aus dem Begriff ‚cuperto‘ abgeleitet ist: dieses Wort ist im Italienischen veraltet und kann mit ‚bedeckt‘ übersetzt werden. Die deutsche Technik hat daraus eine muskuläre Beeinflussung der Höhe gemacht, es ist aber immer nur eine akustische Alteration gemeint gewesen. Eine cuperto- Übung dient dazu, in der Höhe die Stimmbänder zusammenzuhalten, und nicht durch den ansteigenden Atemdruck auseinanderzusprengen, indem man dort eine Randkantenfunktion etabliert, die aber immer noch eine Verbindung zur Vollstimme behält, womit ich in der Lage bin, die Stimme in einer Tonleiter bis in die tiefste Brustfunktion zu führen. Diese Art von Übungen sichern die absolute Höhe, weil die Stimmbänder so in die Luft gebettet und nicht von ihr bedrängt sind. Dies ist die Voraussetzung für jede messa di voce-Übung.
Das passaggio
Ein Begriff, den ich in meiner Ausbildung nie klar vermittelt bekommen habe, und den ich heute für die wichtigste Funktion – besonders der Männerstimme – halte, deren Beherrschung über die Gestaltung der echten Höhe entscheidet.
In der deutschen Technik wird immer vom „Bruch“ gesprochen, ungefähr auf e’/f ‚,(bei Männern also der Eintritt in die Höhe, bei Frauen die obere Grenze der Bruststimme). Wenn ich diesen Bruch in einer Stimme höre, habe ich aber lediglich die Gesetze des passaggios nicht beachtet, die schon vorher (b,h,c) beginnen. Im Bereich des passaggios (b-e‘ ungefähr) findet die grösste Veränderung in der Art der Schwingung der Stimmbänder statt. In diesem Bereich schaltet die innere Stimmbandmuskulatur von der schweren Vollschwingung auf eine leichtere Teilschwingung – für höhere Töne werden schnellere Schwingungen benötigt, daher wird die Masse reduziert.
Da Männer einen grösseren Kehlkopf als Frauen haben, müssen sie fünfmal soviel Muskelmasse bewegen, daher ist das Umschalten der Schwingungsarten bei ihnen auch viel schwerwiegender.Manuel Garcia spricht hier ja von der Falsettfunktion, der dann die Kopfstimme folgt: weil die reine CT-Funktion nicht in der Lage ist, die Stimmbänder zu schließen, muss über dem passaggio die TA-Funktion integriert werden, um die Stimmbänder zum Schließen zu bewegen. Daher reichen unsere Begriffe von Bruststimme und Kopfstimme nicht aus, weil sie nur ein akustisches Phänomen beschreiben und kein funktionales. Es würde den Sänger sehr verwirren, wenn er gesagt bekäme, du musst über dem passaggio die Bruststimme einmischen(!)
Haltloses Forcieren wäre hier die Folge.
Ein gut trainiertes Ohr kann diese Veränderung, eine Verschlankung des Kerns, genau heraushören.
Inalare la voce
Bedeutet wörtlich „die Stimme einatmen“, wir kennen auch den Begriff „die Stimme trinken“. Beides beschreibt ein Konzept, mit dem ich in der Lage versetzt werde, die Luft von den Stimmbändern wegzuhalten, indem in die Ausatmungsfunktion eine Einatmungstendenz geschaltet wird. Das Bild, dabei die Stimme zu „trinken“ statt sie hinauszutreiben, ist sehr hilfreich und ergibt wiederum einen spezifischen Klang.
Neben anderen sind diese Aspekte wichtige Angelpunkte meiner Studioarbeit geworden, weil die Erfahrung zeigt, dass mit ihrer Hilfe die Stimme auf eine absolut sichere technische Basis gestellt wird, die auch in allen Stressituatuionen (Vorsingen, Aufnahmeprüfung,etc…) verlässlich und abrufbar bleibt.
Jeder Kandidat, der auf der Suche nach einem guten Gesangslehrer ist, und sich von der Werbung „unterrichte belcanto-Technik“ angesprochen fühlt, sollte nachfragen können, inwieweit der betreffende Lehrer diese funtionalen Merkmale des Belcantos benennen kann, und ob er Wege gefunden hat, sie auch im 21.Jh. zu vermitteln.
Wir Sängerinnen und Sänger müssen uns heute klarmachen, dass die legendäre Ära des Belcanto mit dem Triumph der Kastraten einherging. Der Klang dieser Stimmen prägte das Klangideal seiner Zeit und auch wir modernen Sänger versuchen in unserer Technik ein Abbild dieses Klanges zu erfüllen. Daher sollten wir auch die gleiche Technik anwenden, denn in der Gestalt der Stimmbänder selbst und ihrer Funktion hat sich in den letzten 400 Jahren nichts verändert.
Was sich verändert hat ist die Tatsache, dass die Kastraten durch physische Malträtierung in die Lage versetzt wurden, stimmlich eine völlig individuelle Freiheit zu erlangen, während wir heute bei relativer physischer Gesundheit oft psychischen Malträtierungen unterliegen, weil uns ein Klangideal von aussen aufgesetzt wird,was medial festgelegt ist und das jeder individuellen Entfaltung abhold ist.