Alle Sänger sind sich einig, dass das Beherrschen des Legato eine Grundvoraussetzung für erfolgreiches künstlerisches Schaffen ist. Die Fähigkeit, große Legatobögen spinnen zu können, ist daher auch einer der Punkte, die einen internationalen Klangstandard ausmachen – weil man ihn in allen großen Stimmen heraushören kann.
Trotzdem fällt es immer wieder schwer, das Charakteristische dieser Fähigkeit zu beschreiben und somit besteht auch die Gefahr, hier wieder in nebulöse Definitionen zu verfallen, was die Weitergabe dieser Fertigkeit, vor allen Dingen ihre Abrufbarkeit, schmälert.
Es gibt viele gute Sänger, die einfach ein legato haben und nicht darüber nachdenken müssen, und damit kann es ihnen auch schwerfallen, das Wissen an Schüler, die „es“ nicht haben, weiterzugeben, weil sie nie in der Situation waren, es erklären zu müssen.
Hier betreten wir den Bereich bewusster und unbewusster Kompetenz.
Zwei Ebenen: Psychologie und Physis
Wenn wir den Vorgang beschreiben wollen, müssen wir zwei unterschiedliche Ebenen heranziehen: einmal die reine Physis, die verantwortlich ist für den technischen Ablauf, und die psychologische Ebene, wo sich die Ursache für die Fähigkeit der technischen Verwirklichung befindet: Die Kraft der Vorstellung, die einen Ton „ausspinnen“ kann, eben das Denken können von Klang – mit Rückwirkung auf den Sänger selbst, aber auch auf sein Publikum.
Ein Sänger kann nur so gut singen, wie er sich seinen Ton – vorher – vorstellen kann: eine Kraft der Imagination, die man auch den „sängerischen Willen“ nennen kann, den Willen zum Tönen.
Thomas Hampson hat hierfür ein schönes Bild benannt, so markant, weil wir es im Deutschen sehr umschreiben müssten:
„Die Kunst des legatos ist die ‚ability to resound the sound‘.“
Für mich heisst das, dass dieser sängerische Wille in der Lage sein muss, den sound von Note zu Note weiterspinnen und mit jeder Note wachsen lassen zu können.
Wobei der Sound ja etwas anderes beschreibt, als bloß den Klang: im ersten Wort schwingt immer die persönliche, unverwechselbare Eigenheit einer Stimme mit.
Für den Sänger ist es von Bedeutung, dass er nicht von Note zu Note denkt (das Notenblatt suggeriert eben dies), sondern sich klar macht, dass diese Note einen Zeitwert hat, der bis an die nächste neue Note geht, in der sich dieser sound entfalten muss. Der Klang spielt sich also auch ‚zwischen‘ den Noten ab. Ansonsten entstehen immer Klanglöcher, die mit einer Betonung jedes Tones aufgefangen werden wollen – der Tod des Legatos.
Obertonreihe
Diese Klanglinie weiterspinnen zu können, beschreibt auch ein Phänomen, welches sich in der Obertonreihe der Stimme abspielt: die schwedisch-italienische Technik spricht in diesem Zusammenhang vom „ring“ – ein Klangereignis über dem eigentlich gesungenen Ton im Obertonspektrum, heraushörbar, und das für den Sänger körperlich spürbar ist, welches für den Kern und die Tragfähigkeit der Stimme verantwortlich ist.
David Jones benennt immer wieder dieses „travelling on the ring“ als Qualität der Stimmführung, die zum Legato führt.
Dieses Klangereignis entfaltet sich zwischen den Noten und die Aufmerksamkeit des Sängers liegt darin, den ring weiterzuspinnen, und nicht den Ton selbst anzufassen. Wenn ich dem Ton nachhöre, unterliege ich immer der Gefahr, ihn im selben Moment verbessern zu wollen, was immer Klangbeulen – eine uneinheitliche Stimmführung – zur Folge hat. Wenn meine Aufmerksamkeit im ring ist, der immer körperlich zu spüren ist, kann dieses ‚resounding the sound‘ stattfinden.
Technische Handhabung
Um ein legato technisch realisieren zu können, muss ich an drei grundlegenden Aspekten arbeiten: Zunge, Kiefer und dem kontinuierlichen Fluss des Atems.
Um den „ring“ zu etablieren, muss sich die Zunge in der „ng“-Position befinden, d.h., die Zungenspitze liegt an den unteren Schneidezähnen, während die Zungenränder die oberen Backenzähne berühren.
Mir ist bewusst, dass in Deutschland immer noch oft das Prinzip der flachen Zunge gelehrt wird, aber die Erfahrung zeigt, dass allein wenn diese Position die Heimat der Zunge wird, die offene Kehle gewährleistet ist. Die alten Schulen haben es immer so gelehrt.
Der Kiefer fällt entspannt nach unten hinten – wir wissen heute, das sich in dieser Stellung die Stimmbänder optimal annähern können. Wenn das Kinn nach vorn drückt, werden die Stimmbändern auseinandergedrängt, die Folge ist die Unterbrechung des Tonstroms bis hin zum Zerbrechen des Registers.
Gerade in der hohen Lage passiert dieses Vorwärtsschieben des Kiefers immer wieder, weil sich so der Klang nach innen wendet, und wir uns besser hören können. Wir opfern also das legato oder sogar die Registerverblendung für die Absicherung unseres Hörens.
Nach diesen zwei eher ‚mechanischen‘ Faktoren fehlt noch der kontinuierliche Fluss des Atems als Hauptmerkmal des strömenden Tones.
Um den Atem ohne Schieben strömen zu lassen, haben sich einige Bilder in der Arbeit bewährt:
Übungen auf -w-, wobei ich das Gefühl habe, die Luft wirbelt in der Nase und presst sich nicht aus dem Mund heraus – es entsteht ein Klang wie beim Blasen auf einem Kamm mit Pergamentpapier. Dieser Klang lässt sich bis in die höchste Lage führen.
Tonleitern abwärts, die mit einem „Seufzen durch die Nase“ beginnen.
Textbehandlung
Ich lasse meine Studentinnen und Studenten immer wieder auf diesen Übungen in die Melodie gehen, damit sie das Gefühl der Klangbewegung in die Melodie mitnehmen, und den Text in dieses Gefühl integrieren.
Der Sänger muss wissen, dass die deutsche Sprache für die Verständlichkeit die Trennung von Wortende und neuem Wortbeginn benötigt – im Gegenteil zum Italienischen oder den angelsächsischen Sprachen. Es ist ein deutlicher Unterschied in der Qualität des legato zu hören, wenn der Sänger deutsch oder englisch singt.
Ich empfehle daher oft, Textphrasen auf Silben ohne Sinninhalt oder nicht in der Muttersprache zu singen, um dann zu versuchen, diese Stimmführung auch ins Deutsche zu übertragen.
Wirkung nach Außen
Ist der Sänger in der Lage, in dieser Weise seinen Klang zu führen, hat das spürbare Wirkung nach Außen: der Zuhörer wird von einer im Prinzip nicht endenden Strömung des „sound“ erfasst und kann durch diese Kraft emotional sehr berührt werden.
Hier liegt eines der Geheimnisse der menschlichen Stimme, die auch berühren kann, wenn ich den Text nicht verstehe, oder wenn nicht einmal welcher benutzt wird.