„Remember that to inspire rather than command creates a spiritual experience of self growth.“
– Alan Lindquest
Ich gebe seit 1994 regelmäßig in Berlin und anderen Städten Seminare für Gesang und habe mich schon lange mit der Tatsache abgefunden, dass sich Männer von solchen Seminaren selten angesprochen fühlen, und sich jedesmal höchstens ein oder zwei von ihnen in so einen Workshop „verirren“.
Es ist schon viele Jahre her, da habe ich unter meinen Schülern und Bekannten gesammelt, weil es mich selbst interessiert hat, ein Seminar für Männer zu geben. In den normalen Seminaren sind immer ungefähr zehn Teilnehmer und Teilnehmerinnen, wobei eben selten mehr als zwei Männer teilnahmen, die sich nach meinem Gefühl immer gut einfügten.
Im reinen Männerkurs machte ich eine Erfahrung, die mich tief bewegte:
Männer haben eine andere Zeit in der Selbstwahrnehmung
Schon zu Beginn des Männerseminars kam mir eine vollkommen andere Energie entgegen, und mir war unmittelbar klar, dass dies ein völlig anderer Kurs werden würde.
An diesem Wochenende ging es in erster Lienie um Stimmwahrnehmung und so begann die Arbeit mit einem langen Teil Körperarbeit – erst einzeln, dann mit einem Partner.
Durch die vielen gegebenen herkömmlichen Seminare hatte sich da für mich ein bestimmter Rhythmus eingependelt, eine Erfahrung, wie viel Zeit für die einzelnen Abschnitte benötigt wird.
Hier nun war alles anders – die Männer brauchten viel mehr Zeit, um sich auf Körperarbeit am Boden, noch dazu im zweiten Teil mit einem Partner, einzulassen, und ich konnte mit Schrecken nachfühlen, wie sich die ein, zwei Teilnehmer in den sonstigen Kursen wohl gefühlt haben müssen, wenn alle Frauen um sie herum immer schneller in der Arbeit waren, schneller im Einlassen auf die Übungen, in der Partnerfindung, schneller in der Wahrnehmung – das bedeutete Stress und Unwohlsein, was für die Entfaltung der Stimme kontraproduktiv war.
Der Begriff „singen“ ist negativ belastet
Diesmal war klar, dass sie diese Zeit jetzt hatten, und nachdem sie in der Gruppe den geschützten Raum abstecken konnten, entfaltete sich nach und nach eine sehr entspannte, innige Atmosphäre, die sehr anders war, als bei den anderen Kursen. Ein anderer Ton klang an, es herrschte ein anderes Vokabular – sie ließen sich humor-und genussvoll gehen, ohne in ihren Worten diffamierend zu werden. In den Pausen wurde genau dieses Thema kommuniziert: wie schwer es einem Mann fällt, sich auf seinen Körper einzulassen, und auch noch mit der Stimme unbekanntes Terrain zu betreten.
Es wurde deutlich, dass der Begriff „singen“, schon oft etwas negatives mit sich bringt, und daher im Vorfeld skeptisch betrachtet wird: es wurde von schlechten Erfahrungen in der Schule berichtet, zu Hause „konnte keiner singen“, Assoziationen an dumpfe Fussballplätze kamen auf – kaum einer hatte positive Erfahrungen aufzuweisen.
Und doch waren sie alle da, und ließen sich ein.
Auch heute sind unter meinen Schülern die Männer in der Minderheit, aber die, die kommen, wollen etwas wichtiges erfahren. Sie wollen althergebrachte Muster aufbrechen, manchmal sogar total unbewusst – sie kommen, um singen zu lernen, dahinter steht aber viel mehr.
Wir wurden erzogen für das Funktionieren im „Außen“, und hatten die Tatsache verinnerlicht, was man nicht anfassen kann, damit befasst sich der Mann nicht.
In der Pubertät war es wohl am Schlimmsten, Singen stand im Verdacht, ’schwul‘ zu sein, oder war höchstens was für Mädchen.
Warum nun gibt es diese erwachsenen Männer, die sich trotzdem mit etwas befassen, wo sie mit ihrer vertrauten schweren, äusseren Muskulatur nicht weiterkommen, was etwas mit Durchlässigkeit, Weichheit, Flow zu tun hat, und womit man in keiner Weise irgendwie auftrumpfen kann?
Stimme als Ausdruck der inneren Kraft
Ich glaube, diese Männer ahnen, dass ihre Stimme ein Ausdruck einer inneren Kraft sein kann, und sie machen sich vorsichtig auf die Suche danach, weil sie irgendwie wissen, dass diese innere Kraft für Männer notwendig ist.
Nun wird diese männliche Kraft von der Gesellschaft argwöhnisch beäugt und man ist allenthalben bemüht, sie einzuzäunen oder gar zu negieren.
Findet der Mann aber keinen Weg zu seiner inneren Kraft, flüchtet er in die äussere, un die traurigen Resultate dieser Ersatzhandlungen bekommen wir immer wieder vor Augen geführt.
Seine Stimme zu erheben, ihre Kraft zu spüren und die Erfahrung zu machen, wie über einen Ton ein emotionaler Impuls von innen nach aussen transportiert werden kann, also in die Kommunikation zu treten, ist für Männer immer noch ungewohnt. Wenn aber das Singen noch als unmännlich gilt, müssen wir die Frage stellen, was ist Männlichkeit?
„Men – made, not born!“
Auch in diesem Seminar wurde mit dieser Frage, offen und verdeckt, gespielt: die alten Muster, die wir generationenlang übernommen haben, ziehen nicht mehr, wo aber sind die neuen Modelle?
Männer sind da unsicher, und auch die Stimme ist ein Ausdruck dieser Unsicherheit. Richard Rohr hat in diesem Zusammenhang einen Satz geprägt, der mir in seiner Kürze sehr gefällt, weil er die Aufgabe beinhaltet, die an diese Generation jetzt gestellt wird:
„Men – made, not born!“
Der Weg zur inneren männlichen Kraft muss gebaut werden, aber wer ist heute dafür verantwortlich?
Wir haben eine Ahnung um diese Kraft, um diese innere Kompetenz, aber sie muss gestaltet werden.
Der Beginn des Singens bewegt sich in einem Schwellenraum
Die Macht der männliche Stimme kennenzulernen ist insofern ein guter Weg, weil er mit Demut einhergeht: wenn man sich ernsthaft dem Singen widmet, betritt man schnell den Raum bewusster Inkompetenz – wir stellen fest, das mit althergebrachten Mustern von Kraft und Muskeln kein Blumentopf zu gewinnen ist, wir betreten also einen Schwellenraum. Der alte Raum geht nicht mehr, der neue hat sich noch nicht etabliert, wir stehen irgendwo dazwischen, auf der Schwelle. In unserer modernen Leistungsgesellschaft wird dieser Raum immer vermieden, wir lernen nur, möglichst schnell von dem einen in den anderen zu hechten – dieser Schwellenraum aber ist der Ort, wo wirkliches Lernen stattfindet, wo wir Erfahrungen machen können.