„Can you remember an inspired moment in your life? Can you remember your feeling at that point an can you draw from that experience? – James Levine
„Man muss das Unmögliche so lange anschauen, bis es eine leichte Angelegenheit wird. Das Wunder ist eine Frage des Trainings.“ – Albert Einstein
Jeder Sänger, jede Sängerin kennt diesen Moment, wo wir aus der privaten Übesituation heraustreten und uns der neuen, öffentlichen Vorsingsituation stellen müssen. Oft herrscht zwischen den beiden Momenten eine schmerzhafte Diskrepanz. Warum ist das so?
Ich möchte einige Arbeitsweisen, die sich in meinem Studio herausgebildet haben, beschreiben, weil es immer deutlicher wird, dass wir viele andere Disziplinen heranziehen müssen, um mit dieser Situation umgehen zu können.
Um bei einem Vorsingen positive Ergebnisse zu erzielen, bedarf es einer wirksamen Strategie. Eine Strategie ist ein erfolgreiches Rezept. Dies wird benötigt, weil diese Präsentationssituation uns mit unseren inneren, verborgenen Schwächen und Altlasten konfrontiert, die mit dem Singen erst einmal gar nichts zu tun haben. Sind diese Ebenen nicht bearbeitet worden, können sie in diesem Moment eine Relevanz bekommen, die das ganze Ergebnis in Frage stellt.
Also muss eine Strategie im Vorfeld wirksam sein, d.h., ich muss mir im Inneren klar darüber sein, mit welcher Motivation ich in dieses Vorsingen hineingehe.
Ich muss niemand beweisen, dass ich Sänger/in bin. Ich brauche keine Legitimation von Aussen.
Natürlich sind genau diese Faktoren im Unterbewussten präsent, mehr noch, genau jetzt spüre ich,dass sie auch Thema sind, die oft die Motivation, singen zu wollen, überlagern.
Wie kann ich dem begegnen?
Wir sprechen nicht über musikalisch-technische Vorbereitung – die ist Voraussetzung, es gibt keine Belohnung für das korrekte Lernen einer Arie.
Aber wie bringe ich mich in einen ressourcenreichen Zustand, wie erreiche ich in dieser Situation das Energielevel, auf dem die Lust und die Freude des Sängertums hör-und sichtbar wird?
Einfacher gefragt, was hindert mich daran, mich in diesem Zustand zu bewegen?
Wir alle haben ein bestimmtes ‚Selbst-bild‘ von uns, das sich durch unsere Erziehung und Umwelteinflüsse geprägt hat. Eigenartigerweise haben wir im Laufe unseres Erwachsenwerdens die Vorstellung akzeptiert, dass dieses ‚Bild‘ von uns unserer Identität entspricht, und daher unveränderlich ist.
Dieses Bild prägt dann nachhaltig unsere Glaubenssätze.
Wir sind dabei nicht mehr in der Lage zu erkennen, dass dieses Bild aber einer Maske entspricht, die uns verordnet wurde, damit wir in den Regeln dieser Gesellschaft funktionieren.
Da es kein anderes Modell gibt – oder wir in diesem Moment keins kennen – identifizieren wir uns mit diesem Bild, und wann immer wir spüren, dass es eine Unstimmigkeit gibt, versuchen wir, es zu rechtfertigen und zu verteidigen, weil es unser (scheinbares?) Selbst ausmacht.
Das heißt, dass sich unsere Aufmerksamkeit teilt.
Sind wir in der Lage zu erkennen, dass dieses Bild von uns nicht unsere Identität ist, können wir unsere Aufmerksamkeit und Energie allein auf die Handlung lenken, und brauchen sie nicht zur Verteidigung oder zum Verbergen von Scham.
Hochleistung als Flow-Erfahrung
Hochleistung, wie sie ja von Sportlern und Musikern beschrieben wird, ist eine Flow-Erfahrung und wird als ein „Ich-freies-in den Augenblick-Vertieftsein“ bezeichnet.
Diesen Zustand erreiche ich, wenn ich in meiner vollen Achtsamkeit im ‚jetzt‘ agiere, und keine zweite Instanz anwesend ist, die mich kontrolliert und beurteilt. Ich kann aber herausfinden, was für eine Stimme das ist, die da in mir ur-teilt, also trennt, und mich so von der Aufmerksamkeit auf die kreative Handlung ablenkt.
Ist es eine innere Stimme, oder kommt sie von außen? (Lehrer, Vater, Mutter, etc.) Kann ich das einordnen, kann ich auch lernen, sie auf ihren Platz zu verweisen.
Angst = Enge
Die Situation des Vorsingens konfrontiert uns alle mit einem Gefühl, dass wir von der Schulzeit her kennen und daher als negativ abgespeichert haben:
Wir werden für unser Tun beurteilt.
Die Handlung selbst ist nicht wertvoll an sich, sondern das Bild, das man von uns hat, wird bewertend betrachtet.
Wir versuchen also, dem Bild, was man von uns hat, (oder was wir denken, das man von uns hat!) zu entsprechen, statt uns in der wirklichen Handlung zu bewegen, ‚es‘ einfach zu tun.
Dieser Unterschied etabliert in uns ein Gefühl der Angst, und das ist gerade für den Sänger in dieser Situation zerstörerisch: Angst – kommt von dem lateinischen ‚angus‘, was Enge bedeutet – wir schalten vom kreativen Gehirn zurück auf unsere Verteidigungsmechanismen des Reptiliengehirns, die immer mit einer Muskelkontraktion einhergehen – der Untergang des sängerischen Flow.
Auch Angst ist ein emotionaler Zustand – und in denen wollen wir ja agieren. Ich darf ihm nur nicht eine besondere Bedeutung zukommen lassen.
Stella Adler sagte in einer ihrer Schauspiel-Klassen darüber:
„Du musst mit deiner Angst sprechen – sage ihr: ich brauche dich, um in meinem Leben zu überleben. Ich muss wissen, was Angst ist. Aber du bist nicht mein Geist, du bist nicht mein Herz. Du bist nicht meine Kreativität, du bist nicht meine Seele. Du bist einfach nur Angst. Nimm darum deinen berechtigten Platz in meinem Leben ein, und übernimm‘ nicht das Ruder. Du bist einfach nur Angst.“
Vermeidung von Emotionen
Es geht hier um das Einordnen von Emotionen, die wir vielleicht nicht haben wollen, die aber da sind. Und wenn wir sie ‚vermeiden‘ wollen, nehmen sie einen Platz ein, der ihnen nicht zusteht, weil wir uns mit viel Energie auf ihr Abweisen konzentrieren.
Das Problem kannten schon die alten Zenmeister:
„Wenn du den Geist in deine rechte Hand legst, wird die rechte Hand ihn nehmen, und dem Körper wird sein Funktionieren fehlen…wenn du ihn nirgendwo hinlegst, wird er sich über den ganzen Körper verteilen und ihn vollständig durchdringen.“ – Takuan Soho, 16. Jahrh., Schreiben des Zenmeisters an den Schwertkampfmeister
Praktische Beispiele
Ich stelle mir im Vorfeld eine eigene Situation vor, wo ich mich stark und erfolgreich gefühlt habe. Die zentrale Frage ist: was war das allererste, was ich in dieser Situation der erfolgreichen Handlung getan, oder gedacht habe? War es etwas, was ich gesehen, gehört oder gefühlt habe? Mit dieser Fragestellung gehe ich die gesamte Situation durch: was war das Nächste, was dann passierte? Auf diese Weise bekomme ich einen deutlichen Eindruck, dass es unterschiedliche Motivationsstrategien gibt, und ich kann herausfinden, mit welcher ich am erfolgreichsten arbeiten kann:
- visuell (ich konstruiere ein inneres Bild)
- kinästhetisch (ich etabliere ein Gefühl)
- auditiv (ich führe einen inneren Dialog)
Es sind meistens alle drei Faktoren anwesend, durch meine Fragestellung finde ich aber heraus, welches Element führt, und welche Richtung meine – meist unbewusste – Strategie hat. Strategien schaffen Ergebnisse.
„Erfolg kann zusammengefasst werden als Sich-hineingeben, Glauben und Flexibilität.“ O’Connor/Seymour, NLP: Gelungene Kommunikation und persönliche Entfaltung
Für das nächste Vorsingen heisst das konkret:
Ich erinnere mich an eine erfolgreiche Auftrittssituation.
Was ist das Erste, was mir dabei in den Sinn kommt?
Visualisiere ich den Konzertraum, eine Bühne, wie waren die Lichtverhältnisse?
Erinnere ich mich an den Geruch der Bühnenluft, an den im Einsingzimmer? (Der olfaktorische Sinn baut einen direkten Zugang zu unseren emotionalen Erinnerungen)
Oder kann ich den Stoff auf meiner Haut nachfühlen, aus dem meine Konzertkleidung war?
Konnte ich in den Schuhen gut gehen? Was für eine Beschaffenheit hatte der Fussboden?
Wie war meine Kommunikation mit dem Begleiter, mit dem Orchester, wie mit dem Publikum?
Wie nahm ich mein eigenes Singen wahr?
Wie nahm ich meinen Körper während des Auftretens und während des Singens wahr?
War ich im Dialog mit mir selbst, hat mich die Musik getragen, oder stand ich als Beobachter neben mir und schaute zu, wie die Dinge mit mir geschehen?
Positiv gespeicherte Erfahrungen können im Jetzt-Zustand genutzt werden
Diese Elemente sind in einer holistischen Form gespeichert und können, als positiv gewertet, jederzeit erneut abgerufen werden, und tragen somit zu einem ressourcenreichen Zustand bei, der von mir aufgerufen wird, und nicht eine Reaktion auf irgendetwas von Aussen ist.
Je sorgfältiger wir diese Punkte sammeln, umso deutlicher erkennen wir, dass an einer erfolgreichen Handlung viele Strategien beteiligt sind.
Unser Ziel ist, dass wir uns in einer Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit auf einem hohen Energielevel bewegen und ein Wohlbehagen ausstrahlen.
Dies ist die Basis für die Gestaltung eines Raumes, in dem sich der Sänger in der Freiheit bewegt, emotionale Impulse zu transportieren, und so mit dem Publikum in Kontakt treten kann.
Die Notwendigkeit von eindeutigen Botschaften
Der Kontakt ist gewährleistet, wenn die Botschaft eindeutig ist.
D.h., wenn es keine Diskrepanz zwischen der Aussage der Figur und der körperlichen Aussage des Sängers gibt.
Diese Metaebenen können vollkommen unbewusst ablaufen, fallen aber deutlich ins Gewicht.
Eine oft erlebte Situation ist z.B., dass der Sänger in seinem Auftreten und seinen verbalen Äusserungen richtig signalisiert, er möchte dieses Engagement bekommen, sein Körper aber gleichzeitig die Botschaft sendet, dass er sich unwohl fühlt und weit von diesem Ort entfernt sein möchte.
Jede etablierte Emotion oder Geste muss auf der Bühne ‚ganzheitlich‘ sein.
Das Bild des inneren Staunes,welches die Ressonanzräume öffnet, darf sich nicht in einem isolierten Faltenschlagen der Stirn (der Sängerblick) äussern, sondern muss den ganzen Körper erfassen: der weiche Gaumen hebt sich, die Nasenschallräume werden bewusster, das Kinn fällt, die Wangenknochen heben sich, die Wirbelsäule streckt sich, der Brustkorb weitet sich, der Atem vertieft sich und auch das Herz weitet sich.
Verbleibe ich in meinem technischen Denken als Sicherheitsanker, werde ich immer in eine isolierte Körperlichkeit verfallen, wie sie oben schon von den alten Zenmeistern beschrieben wurde.
Wieder eine hilfreiche Strategie ist es im Vorfeld der privaten Körperlichkeit mit einer von Aussen geschaffenen zu begegnen, die grösser als die Gewohnheit ist. Aus dieser neuen Körperlichkeit gehe ich in die textlich-musikalische Arbeit, um sie dann letztlich innerlich zu integrieren.
„Die Figur muss vor das Auge des Ohres treten“ – Richard Wagner
Wenn ich z.B. für meine Arie ein bestimmtes Tier in Bewegung und Gestik assoziieren kann (Grundlage eines jeden Schauspieltrainings), diese Körperwahrnehmung während des Vortrags verinnerliche, bewahrt mich das vor den gefürchteten ‚Sängergesten‘, die immer dann entstehen, wenn der körperliche Flow nicht im Bewusstsein ist.
Bei einer eindeutigen Botschaft entsteht eine erfolgreiche Kommunikation, weil ein Energieaustausch zwischen dem Bühnenakteur und dem Zuschauer (oder Agenten) entsteht, da die Bühnenfigur vermittelnd wahrnehmbar ist.